Antike ohne Barrieren: Kunst inklusiv erfahren

  • Zeitraum: April 2024
  • Beratungsschwerpunkt:
    • Planen & Bauen

Das Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München, kurz Abgussmuseum, wurde im Sommer 2023 mit dem Signet "Bayern barrierefrei" ausgezeichnet. Erst zwei Jahre zuvor startete das ambitionierte Projekt "All inclusive". Mit innovativen und partizipativen Formen und Methoden wurde ein Konzept entwickelt, das Menschen mit besonderen Bedürfnissen eine selbstbestimmte und kreative Teilhabe am kulturellen Erbe ermöglicht.

Tastführung im Atrium des Abgussmuseums.
Eine Gruppe von Menschen ertastet Gipsfiguren, die im Kreis auf tischhohen Podesten aufgebaut sind.

Tastführung im Atrium des Abgussmuseums.

Foto: Bettina Sigmund

Tastführung in einem Museum für alle

Konzentriert suchen Hände, umhüllt von weißen Textilhandschuhen, behutsam nach Details an sechs kleinen Statuen, die auf halbhohen Podesten extra für sie aufgebaut wurden. Es sind Abbildungen der Besiegten, Figuren aus dem "Kleinen Attalischen Weihgeschenk", erklärt Dr. Nele Schröder-Griebel, die gemeinsam mit Dr. Andrea Schmölder-Veit das Abgussmuseum leitet. Es ist ruhig im großen Lichthof des Museums, die meisten Mitarbeiter der Büros im Haus der Kulturinstitute sind schon im Feierabend. Vereinzelt streifen noch letzte Besucher durch die Sammlung, das Museum schließt bald offiziell und gehört dann den blinden und seheingeschränkten Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tastführung allein. Einige sehende Besucher sind auch dazugekommen, sie nutzen die Gelegenheit, den Exponaten richtig nahekommen zu dürfen.

"Wir sind ein Museum für alle",

erklärt Nele Schröder-Griebel und ergänzt: "Hier wird niemand weggeschickt, aber es müssen alle mitmachen. In zweiter Reihe stehen und passiv beobachten, ist bei einer Tastführung keine Option!" Also stülpen sich alle folgsam ihre Handschuhe über und begeben sich auf die haptische Suche nach der Geschichte der Besiegten. Wie ist die Körperhaltung der Statue, ihre Physiognomie, ihre Gestik und Mimik, was trägt sie bei sich, welche Wunden lassen sich ertasten? Im gemeinsamen Gespräch werden die Details erörtert und historisch eingebettet. Nach jeder Frage- oder Aufgabenstellung rotiert die Gruppe, so dass alle Teilnehmer die Gelegenheit haben, jede Figur auf ihre Attribute hin abzutasten. Eine Assistentin unterstützt dabei. Sie führt Personen, die Hilfe benötigen, zum nächsten Podest, räumt schnell einen Stuhl oder Rucksack aus dem Weg, beantwortet kritische Fachfragen und packt dort an, wo gerade Unterstützung benötigt wird. Manche Teilnehmer sind mit einer Begleitperson ins Museum gekommen, andere allein. Die Auseinandersetzung mit den Figuren ist analytisch, sehr intensiv und tiefgründig. Wer Kunst ertastet, kommt ihr zwangsläufig näher als der bloße Betrachter.

Die Museumleiterin Dr. Nele Schröder-Griebel bereitet sich auf eine Tastführung vor.
Eine Frau mit weißen Handschuhen ertastet die Details eines Wandreliefs.

Die Museumleiterin Dr. Nele Schröder-Griebel bereitet sich auf eine Tastführung vor.

Foto: Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München
Tastmodell des Herakles mit dem Original im Hintergrund.
Eine Figur von etwa 50 cm Höhe steht vor dem riesigen Original, von dem nur die Füße zu sehen sind. Das Icon einer blauen Hand sowie eine Beschreibung in Pyramidenschrift kennzeichnen das Tastmodell als solches.

Tastmodell des Herakles mit dem Original im Hintergrund.

Foto: Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München / Fotograf: Roy Hessing

Hands-on-Mentalität und Improvisationstalent

Nicht alles im Abgussmuseum ist, allein nach den Kriterien der baulichen Barrierefreiheit betrachtet, perfekt – aber darauf kommt es auch gar nicht unbedingt an. In dem denkmalgeschützten Bau wurde ein Außenaufzug für Menschen im Rollstuhl angebracht, und es sind barrierefreie Toiletten im Haus vorhanden. Vermutlich wird es aufgrund der historischen Böden nie ein taktiles Bodenleitsystem geben. Trotzdem lässt sich die Museumsleitung nicht davon abhalten, spezielle Angebote für Blinde anzubieten, und weist einfach pragmatisch darauf hin, dass für den Besuch eine Begleitperson empfohlen wird. Mit Eigeninitiative und Tatendrang, persönlichem Engagement der Mitarbeitenden und viel Zugewandtheit wird so trotz baulicher Widrigkeiten vieles, das unmöglich scheint, möglich. So auch die Tastführungen. Die Akustik in dem großen Lichthof ist für eine Führung mit seheingeschränkten Personen nicht optimal. In dem hohen Atrium hallt es. Reden mehrere Personen durcheinander, fällt es einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern schwer, alles Gesagte zu verstehen. Als Alternative wurde deswegen der Gartensaal, ein Nebenraum, vor zwei Jahren auf die akustischen Bedürfnisse bei Tastführungen abgestimmt. Eine Akustikdecke und schwere Vorhänge sorgen nun für ein gutes Sprachverständnis. Normalerweise finden die Tastführungen hier statt, für die sechs Ausstellungsstücke der Besiegten ist der Gartensaal aber zu klein. „Wir müssen uns frei um die Objekte bewegen können“, erläutert Nele Schröder-Griebel. Also wurden die Originale für die Tastführung kurzerhand von ihrem eigentlichen Standort im zweiten Obergeschoss in das Atrium getragen. Diese anpackende Mentalität ist im Abgussmuseum in vielen Aspekten zu erkennen.

Die Medienstation mit Tastobjekten, Infomaterialien u.a. in Brailleschrift sowie Audio-Klappkarten und ein Multimediascreen.
Bequeme Stühle und ein Tisch mit Tastobjekten laden zur Information ein.

Die Medienstation mit Tastobjekten, Infomaterialien u.a. in Brailleschrift sowie Audio-Klappkarten und ein Multimediascreen.

Foto: Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München

All inclusive: Nachhaltige Maßnahmen

Die Maßnahmen für sehbeeinträchtigte und gehörlose Personen sowie Menschen mit kognitiven Schwächen wurden im Rahmen des geförderten Projekts „All inclusive“ zwischen 2021 bis Ende 2023 entwickelt. In einer Highlight-Tour werden nun die wichtigsten Figuren in einfacher Sprache erklärt, daneben steht oft ein Miniaturmodell zum Ertasten. Über QR-Codes können Interessierte weitere Informationen und Hilfsangebote – Audiospuren, Videos mit deutscher Gebärdensprache und Texte in leicht verständlicher Sprache – einfach über die eigenen Devices abrufen, es sich an einer der Medienstationen gemütlich machen oder später andernorts Inhalte über das Internet noch mal aufrufen und nachlesen. Einfache farbige Icons markieren die Angebote, darunter auch Modelle zum Anfassen. Die meisten Tastmodelle sind aus Gips gegossen, einige sind auch aus robustem Kunststoff – entweder aus dem 3D-Drucker oder tatsächlich ganz pragmatisch aus dem Baumarkt beschafft. „Wir suchten im Baumarkt für einen Workshop nach einem Negativbeispiel einer Statue als Dekorationsobjekt und haben stattdessen eine sehr detailgetreue Nachbildung unserer Venus gefunden. Seitdem nutzen wir die Venus aus dem Baumarkt als Tastmodell“, freut sich die Museumsleiterin. Die Audiostationen funktionieren nach einem einfachen System, das auch bei Soundgrußkarten zu finden ist. Ein Klappmechanismus startet die Audiodatei – per USB muss die Station alle paar Tage geladen werden. Bei allen Maßnahmen geht es darum, dass diese pragmatisch und nachhaltig sind und mit wenig Aufwand weitergeführt werden können, auch weil nun die Förderung durch das Programm „kultur.digital.vermittlung“ ausgelaufen ist.

Leicht zu erkennende Symbole markieren alle Maßnahmen für blinde und gehörlose Menschen sowie Personen mit kognitiven Einschränkungen.
Das Icon setzen sich aus fünf farbigen Kreisen zusammen, in deren Mitte „All in“ steht: Grün für gebärden, Lila für verstehen, Hellblau für tasten, Gelb für schauen, dunkleres Blau für hören.

Leicht zu erkennende Symbole markieren alle Maßnahmen für blinde und gehörlose Menschen sowie Personen mit kognitiven Einschränkungen.

Foto: Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München
Fest installierte Audiostation und mobile Audio-Klappkarte.
Eine Frau öffnet eine Klappkarte mit blauem Audiosymbol. Daneben die fest installierte Audiostation mit dem gleichen Icon.

Fest installierte Audiostation und mobile Audio-Klappkarte.

Foto: Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München / Fotograf: Roy Hessing
Das neue Leitsystem erleichtert die Orientierung.
Ein braunes Farbband, angebracht an den Säulen und Wänden in etwa zwei Metern Höhe, weist mit weißer Beschriftung und Symbolen auf die verschiedenen Einrichtungen im Museum hin. Im Vordergrund befinden sich Gipsbüsten.

Das neue Leitsystem erleichtert die Orientierung.

Foto: Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München

Nele Schröder-Griebel resümiert:

„Wir starteten im Jahr 2020 bei null. Es gab weder digitale noch analoge oder personelle Angebote für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Wir haben als Team gelernt – und das ist natürlich für den Beruf wichtig und für uns alle auch persönlich –, welche besonderen Bedürfnisse Gehörlose oder Blinde haben: Welche Wege der Vermittlung gibt es? Welche Bedeutung hat eine Information in Braille- oder Pyramidenschrift, welche das Haptische oder das Auditive? Wir haben versucht, so weit möglich, alles zu berücksichtigen und im Rahmen der baulichen und finanziellen Möglichkeiten hier im Haus umzusetzen. Uns war wichtig, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, die nach und nach weiterwachsen kann. Wir haben baulich einiges optimiert, es ist aber noch viel zu tun. Es gibt nun beispielsweise ein neues Leitsystem. Bald kommt noch ein Orientierungsscreen am Eingang dazu, der per Film auditiv und mit Deutscher Gebärdensprache die räumliche Situation für alle unterschiedlichen Nutzergruppen erklärt. Wenn man Qualität will, braucht man einen langen Atem. Aber es ist gut geworden und wird immer besser!“

 

Die nächste Tastführung im Abgussmuseum findet am 30. April 2024 statt.


Autorin: Bettina Sigmund

Mehr über das Projekt „All inclusive“ im Abgussmuseum
https://www.abgussmuseum.de/de/all-inclusive

In eigener Sache der Beratungsstelle Barrierefreiheit:
Das Barrierefreie Bauen ist stets ein Abwägen. Es ist ein Abwägen zwischen den verschiedenen Bedürfnissen unterschiedlicher Nutzergruppen, zwischen den Anforderungen der deutschen Normenlandschaft und den baulichen und finanziellen Möglichkeiten. Wichtig ist dabei immer, die Anforderungen an die Barrierefreiheit bei dem jeweiligen Objekt mit Sinn und Fachverstand umzusetzen. Gut begründet, darf nämlich auch von den Normen abgewichen werden, sofern das jeweilige Ziel trotzdem anderweitig erreicht werden kann. Die gelungenen Maßnahmen im Abgussmuseum belegen, dass selbst unter schwierigen Prämissen auch mit baulichen Kompromissen viel erreicht werden kann. Die Beratungsstelle Barrierefreiheit steht gerne mit Beratungsleistungen und Stellungnahmen zu Planungen und Ausführungen von baulicher Barrierefreiheit zur Verfügung.