10.12.2024

Super-Diversität als Kraft der Zukunft

Planen und Bauen

Gruppenbild von fünf Frauen und vier Männern völlig unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe vor einer fiktiven Naturlandschaft.

Foto: Prof. Dr. Laura Bechthold

Eine Reise in die Gesellschaft der Zukunft mit Prof. Dr. Laura Bechthold, Zukunftsforscherin an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Über Gestaltungsmöglichkeiten – und was wir daraus machen…

Prof. Dr. Laura Bechthold, Professorin für gesellschaftliche Technikfolgenabschätzung an der Technischen Hochschule Ingolstadt, stellte in ihrer Keynote "Zukunft für alle" anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Beratungsstelle Barrierefreiheit die vielfältigen Möglichkeiten zur Gestaltung einer inklusiven und nachhaltigen Gesellschaft der Zukunft in den Mittelpunkt. Die Zukunft ist für sie keine feststehende Realität, sondern ein Gedankenexperiment, dessen Ausgang wir selbst gestalten können.

Zukunft als Gedankenexperiment

„Die Zukunft ist ein spannendes Gedankenkonstrukt – sobald sie da ist, wird sie kurz zur Gegenwart und gleich wieder zur Vergangenheit", betont sie die Abstraktheit der Zukunft und ermutigt zu deren aktiven Gestaltung. Denn:

"Es gibt nicht die eine Zukunft, sondern viele verschiedene Zukünfte mit gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten".

Die Vorstellung der Zukunft hängt dabei stark von den individuellen Erfahrungen, Wissen, Werten und Wünschen einzelner Personen ab, so dass es eine große Vielfalt an möglichen Zukunftsszenarien gibt. Diese Vielfalt an Optionen zusammenzubringen erfordert eine proaktive Gestaltung der Gesellschaft.

„Wenn wir über die Zukunft der inklusiven und barrierefreien Gesellschaft von morgen sprechen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir zunächst über ein abstraktes Gedankenmodell sprechen. Dieses können wir aber gestalten. Anders gesagt: Die Zukunft wird immer verhandelt – wichtig ist, wer die Entscheidungsträger sind und wer am Verhandlungstisch sitzt“.

Wissen über die Zukunft gestalten

In einem ersten Schritt geht es in der Zukunftsforschung darum, möglichst viele Parameter und Fakten zu sammeln, die bereits existieren und von außen auf unsere Gesellschaft einwirken. Das können Megatrends wie der Klimawandel, neue Technologien wie KI oder der demografische Wandel sein. Wir wissen zum Beispiel, dass der Altersquotient der Gesellschaft weiter steigen wird, dass durch den Klimawandel verschiedene Migrationsströme die Zusammensetzung der Bevölkerung verändern werden, dass es neue Krankheiten, aber auch neue Heilmethoden geben wird. Die Technologie wird große Fortschritte machen, so dass die Grenzen zwischen Mensch, Technik, Biologie und Gesellschaft verschwimmen werden. „All das sind zunächst nur wertneutrale Entwicklungen als Rahmenbedingungen“, erklärt Laura Bechthold. Und weiter.

„Was wir daraus machen, liegt an uns! Wir haben einen unglaublich großen Gestaltungsspielraum und die Chance, die Weichen für eine von uns gestaltete Gesellschaft zu stellen. Wir sind nicht machtlos, sondern können selbst entscheiden, wie – innerhalb der Rahmenbedingungen – unsere Zukunft aussehen soll.“

Super-Diversität als Chance

Laura Bechthold sieht in diesem Zusammenhang die Super-Diversität, ein sozialwissenschaftliches Konzept des amerikanischen Soziologen Steven Vertovec, als prägenden Aspekt der Zukunft. Der Begriff setzt sich mit unserer heutigen, engen Definition von Diversität auseinander, die immer noch von Kategorien wie männlich/weiblich, alt/jung, mit/ohne Migrationshintergrund, mit/ohne körperliche Einschränkung geprägt ist.

„So funktioniert Diversität aber nicht! Jeder Mensch ist eine Überlagerung vieler Komponenten von sozioökonomischem Hintergrund, Herkunftsland, kultureller Prägung, körperlichen und kognitiven Fähigkeiten, Geschlechtsidentität, Alter...“.

Die Forschung zeige, dass vielfältige Teams kreativer seien und Vielfalt zu neuen Antworten führe. Die Technologie mache es bereits vor, hier gebe es bereits eine Vielzahl von zukunftsweisenden Ansätzen, die Vielfalt als Chance begreifen. Dazu zählen Start-up-Ideen wie die intelligente Dusche Showee Shower, die sich individuell an den Grad der Selbstständigkeit jeder Person anpasst, das Unternehmen Visualfy, das Produkte für den Alltag von Gehörlosen entwickelt, autonome Lieferroboter, die in Tallin Essen auf Rädern ausliefern, oder elektrische On-Demand-Fahrzeuge von Dromos, die den Stadtverkehr ergänzen – um nur einige zu nennen. All diese Impulse zeigen wichtige Schritte in eine digitale, KI-unterstützte Zukunft, die Teilhabe für alle ermöglicht.

Futures Literacy als Kompetenz

Um die Zukunft verantwortungsvoll planen zu können, muss „Futures Literacy“ – die Kompetenz zur Gestaltung der Zukunft nach dem Ansatz der UNESCO – stärker gefördert werden. „Zukunftskompetenz ist wichtig, um uns auf kommende Veränderungen vorzubereiten und Neues zu erfinden“, so Bechthold. Wir müssen lernen, Chancen zu erkennen, Dialoge über mögliche Zukünfte zu führen, diese zu gestalten und zu verhandeln. Denn: „Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gerecht verteilt“, zitierte sie William Gibson. Bei der Verteilungsgerechtigkeit

„spielt die Beratungsstelle Barrierefreiheit eine zentrale Rolle, weil sie als wichtiger Akteur und als Stimme aller Menschen mit Einschränkungen deren Bedürfnisse in den Fokus rückt.“

Dabei gilt es, die Versäumnisse der Vergangenheit auszugleichen und im digitalen Raum nicht die gleichen diskriminierenden Strukturen zuzulassen, wie sie jahrhundertelang in der analogen Welt üblich waren. Hier können wir eine vielfältige, inklusive und barrierefreie Gesellschaft aufbauen und digitale Verantwortung übernehmen.

„Wir müssen sicherstellen, Teilhabe und Transparenz für alle im digitalen Raum zu ermöglichen – von leichter Sprache bis hin zu KI-gesteuerten Tools“,

fordert Bechthold.

Gruppenbild von Personen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe mit Wanderausrüstung vor einer fiktiven Berglandschaft, einige davon im Rollstuhl sitzend.

Foto: Prof. Dr. Laura Bechthold - Keynote „Zukunft für alle!“

Cathedral Thinking als Vorbild

Abschließend ruft die Zukunftsforscherin in ihrer Keynote dazu auf, über den eigenen Tellerrand hinaus zu denken und wählt dafür ein passendes Beispiel aus der Baugeschichte:

„Die Erbauer von Kathedralen haben vor hunderten von Jahren weit über ihre eigene Lebenszeit hinaus geplant. Sie haben es gewagt, Bauwerke zu beginnen, deren Fertigstellung sie selbst nicht mehr erlebten. Heute sind wir so in unserem Alltag gefangen, dass wir es nicht wagen, über unsere eigene Lebensspanne hinaus zu denken. Das ist aber wichtig, um die Zukunft zu gestalten! Vielleicht ist es auch hier, wie damals, die Aufgabe von Architektinnen und Architekten, neue Leitbilder für eine Gesellschaft von morgen zu entwickeln. Wir befinden uns in einer Zeit des Umbruchs und Wandels und haben jetzt die Chance, die Weichen für eine Zukunft für alle zu stellen – im realen und im digitalen Raum. Die Arbeit der Beratungsstelle Barrierefreiheit leistet einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer inklusiven Zukunft“.

Weitere Informationen unter:
Laura Bechthold

Text: Bettina Sigmund

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