40 Jahre Beratungsstelle Barrierefreiheit
Planen und Bauen
Ein lebendiges Stück Zeitgeschichte
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Erwin Wrba im Interview bei der Ausstellung "Barrieren abbauen" am 16. Oktober 1997
Das Jahr 1981 war ein politisch bewegtes: Hundertausende protestierten lautstark für den Frieden, in der gesamten Bundesrepublik wurden Häuser besetzt und die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen gewannen immer weiter an Einfluss. Jenseits der alten Fragen der Verteilung von Vermögen und Arbeit verlagerte sich der Blick zunehmend auf die Lebensbedingungen derer, die zuvor nur wenig Teilhabe erfahren hatten.
So war es auch mit der sogenannten „Behindertenbewegung“, die sich in Deutschland seit den späten 1960er-Jahren entwickelte.
Dass die Vereinten Nationen das Jahr 1981 zum „Jahr der Behinderten“ ausriefen, wurde für die Bayerische Architektenkammer zum Impuls, eine neue Beratungsstelle zu konzipieren. Es sollten jedoch noch gute drei Jahre vergehen, bis die „Beratungsstelle für behindertengerechtes Planen und Bauen“, wie sie zunächst genannt wurde, nach anfänglichen Schwierigkeiten im Juli 1984 tatsächlich eröffnet werden konnte. Ihr Anspruch war, wie der damalige Vizepräsident der Bayerischen Architektenkammer, Erwin Wrba, im Februar des selben Jahren festgehalten hatte, „die Bemühungen um eine Humanisierung der Lebensbedingungen von Behinderten“ zu einer „praktischen Realisierung“ zu bringen.
Bereits während der Planungsphase war darüber nachgedacht worden, die Beratungsstelle in den Räumlichkeiten der Bayerischen Architektenkammer unterzubringen, was jedoch daran scheiterte, dass ein Umbau des damaligen Gebäudes am Münchner Bavariaring nicht ohne weiteres möglich war. Stattdessen wurde ein mit dem Rollstuhl zugänglicher Raum im Bauzentrum München an der Radlkoferstraße gefunden.
Der Münchner Architekt Lothar Marx leitete damals fachlich die Beratungsstelle. Seither haben sich eine Vielzahl von Expertinnen und Experten für die Beratungsstelle eingesetzt und inzwischen wurden weit mehr als 90.000 Beratungen angeboten. 2006 erhielt Marx für sein umfassendes Engagement und seine Verdienste für barrierefreies Bauen sogar das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Neben Menschen mit Behinderungen sollten zu Beginn auch ältere und durch Krankheit eingeschränkte Personen sowie Eltern mit Kindern beraten werden, die alltägliche bauliche Barrieren im häuslichen und öffentlichen Bereich damals noch sehr viel mehr als heute zu überwinden hatten. Das Angebot richtete sich zudem an all jene, die am Planungsprozess von Bauwerken und dem barrierefreien Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs beteiligt waren. Auf diese Weise sollte ein Bewusstsein geschaffen werden, welche Probleme bereits durch gelungene Planung zu vermeiden wären.
Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, das ebenso wie die Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern die Gründung und Etablierung der Beratungsstelle maßgeblich unterstützte, betonte regelmäßig deren außerordentlichen Erfolg. Dieser zeigte sich auch daran, dass während der gesamten 1980er-Jahre immer wieder Beratungen die bayerischen Landesgrenzen überschritten. Von Beginn an wurden eigene Veranstaltungen organisiert und das angesammelte Wissen in die Normenarbeit eingebracht. So unterstützt die Beratungsstelle bis heute Architekten, Bauherren und Planer dabei, internationale und nationale Normen zur Barrierefreiheit in der Baupraxis anzuwenden.
Im Juli 1989, fünf Jahre nach der Gründung, wurde ein zweiter Standort in Nürnberg, abermals mit der Unterstützung des Sozialministeriums, ins Leben gerufen. Inzwischen firmierte die Beratungsstelle unter dem angepassten Namen „Planen und Bauen für alte und behinderte Menschen“. Nun waren in München zwei Architekten und eine Sozialberaterin sowie ein Sozialberater tätig, in Nürnberg zwei Architekten.
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Ein Flyer der Wanderausstellung "Barrieren abbauen" aus dem Jahr 1995
Die Beratungsstelle arbeitete weiterhin eng mit Ministerien und Verbänden zusammen. Zu Beginn der 1990er-Jahre wurden mit Unterstützung der zuständigen Staatsministerien die ersten Leitfäden für barrierefreies Wohnen ausgearbeitet und veröffentlicht. Zur gleichen Zeit ging die Wanderausstellung „Barrieren abbauen“ auf Reisen. Sie sollte nicht die einzige mobile Ausstellung der Beratungsstelle bleiben, später kam die Ausstellung „Barrierefrei bauen“ hinzu. 1998 zog die Beratungsstelle vorübergehend in den Neuhauser Trafo um, gute vier Jahre später übersiedelte sie in den heutigen Standort, das inzwischen vollständig barrierefrei zugängliche „Haus der Architektur“ auf dem Gelände der Bayerischen Architektenkammer an der Waisenhausstraße 4.
Zu dieser Zeit lautete ihr offizieller Name seit 2000 noch „Beratungsstelle Barrierefreies Bauen“, 2015 änderte er sich ein weiteres Mal. Im Rahmen der 2013 begonnenen Initiative der Bayerischen Staatsregierung „Bayern barrierefrei“ wurde die Beratungsstelle mit einem erweiterten Mandat ausgestattet und der heutige Titel „Beratungsstelle Barrierefreiheit“ etabliert.
Seither wurden die Beratungskapazitäten und Standorte mehr als verdoppelt. Die damit verbundene Ausweitung ihres Auftrags hilft, auch über die Architektur hinausgehende bestehende Barrieren abzubauen. Das Aufgabenspektrum umfasst schwerpunktartig nunmehr auch die Unterstützte Kommunikation, die sogenannte Leichte Sprache sowie die Digitale Barrierefreiheit und vertiefend auch soziale Fragen und Förderungen. Gab es schon früh in der Geschichte der Beratungsstelle beständig eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Institutionen des Freistaats Bayern und Verbänden wie dem Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund, der Vereinigung Kommunaler Interessenvertreter von Menschen mit Behinderung in Bayern e.V. oder dem Roten Kreuz, kamen mit der Stiftung Pfennigparade e.V. und der Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH zwei feste Kooperationspartner hinzu, die nunmehr die Themenschwerpunkte Digitale Barrierefreiheit, Leichte Sprache und Unterstützte Kommunikation im Team der Beratungsstelle verantworten. Mittlerweile ist die Beratungsstelle Barrierefreiheit mit insgesamt 18 Anlaufstellen in allen bayerischen Regierungsbezirken vertreten und deckt damit auch Städte wie Augsburg, Regensburg und Würzburg ab, die man bereits 1983 als mögliche künftige „Außenstellen“ erwogen hatte.
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Mit dieser Grafik trat die Beratungsstelle bis zu ihrer bislang letzten Umbennung im Jahr 2015 auf.
Sie unterstützt Planende, Bauherren und öffentliche Einrichtungen bei der Planung und Umsetzung barrierefreier Gebäude und öffentlicher Räume. Zum Thema Normen und Standards stellt sie Informationen bereit.
Auch private Personen, insbesondere Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen, erhalten Tipps für barrierefreies Wohnen. Sie bietet Expertise und Unterstützung, wenn es um die Barrierefreiheit digitaler Räume und Angebote geht und setzt sich für barrierefreie und verständliche Kommunikation ein. Die Beratungsstelle bietet Schulungen, Vorträge und Seminare an, um Fachleuten das Wissen und die Fähigkeiten zu vermitteln, die für barrierefreies Bauen nötig sind. Durch Fachpublikationen und Veranstaltungen wird das Bewusstsein für Barrierefreiheit in der Gesellschaft gefördert.
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30 Jahre Beratungsstelle Barrierefreiheit Jubiläum am 14. Juli 2014 im Haus der Architektur
In Zusammenarbeit mit Ministerien und anderen Institutionen erstellt die Beratungsstelle praxisorientierte Leitfäden und Handlungsempfehlungen für barrierefreies Planen und Bauen, für Digitale Barrierefreiheit, Leichte Sprache und Unterstützte Kommunikation. Sie wirkt in der Region, um gerade in weniger urbanisierten Gebieten Barrierefreiheit zu fördern. Sie unterstützt Schulen und Hochschulen bei der Umsetzung barrierefreier Lernumgebungen, um Bildung für alle zugänglich zu machen. Sie sorgt für die Weiterentwicklung und Beratung im Bereich barrierefreier öffentlicher Verkehrssysteme, um die Mobilität für Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Zudem bietet die Beratungsstelle Unterstützung für Unternehmen und Organisationen bei der Schaffung barrierefreier und inklusiver Arbeitsumgebungen, um die Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen zu verbessern und soziale Inklusion zu fördern.
Heute kann man sagen: Von einer kleinen Einrichtung mit einer großen Vision hat sich die Beratungsstelle zu einer zentralen, unverzichtbaren Anlaufstelle für alle Fragen zur Barrierefreiheit in Bayern entwickelt. Auf weitere 40 Jahre, die zu einer noch inklusiveren Gesellschaft beitragen mögen!
Text: Manuel Kögelmaier, Thomas Lenzen und Charlotte Röttger