01.07.2025

07-08/2025 Zu groß zum Bleiben – zu wertvoll zum Verlassen? Vom Wunschzuhause zum Zukunftsmodell

Planen und Bauen

Projekt der Architektouren 2025: Gemeinschaftsraum der Alten Schmiede, barrierefreies Wohnen für Senioren in Thierstein, Kuchenreuther Architekten/Stadtplaner.
Gemeinschaftsraum mit Küche, Stühlen und Tischen

Projekt der Architektouren 2025: Gemeinschaftsraum der Alten Schmiede, barrierefreies Wohnen für Senioren in Thierstein, Kuchenreuther Architekten/Stadtplaner.

Foto: Feig Fotodesign

Lesen Sie hier über Strategien des Sanierens, Teilens und Aktivierens, Wohnraum-Remanenz und über gute Beispiele. Es wird deutlich: Wer rechtzeitig plant, schafft Platz für Neues – für sich, für andere und für die Zukunft des Gebäudebestands.

Deutschland ist gebaut – und das ist gut so

"Bauen, bauen, bauen!" – dieses Mantra scheint die einfache Antwort auf die Wohnraumkrise in Deutschland. Doch der ausschließliche Fokus auf Neubau, besonders auf der grünen Wiese, greift zu kurz. Er löst weder die sozialen noch die ökologischen Probleme: Er verbraucht wertvolle Flächen, Energie und Ressourcen, ist teuer und steht dem Wandel hin zu zukunftsfähigen, klimagerechten Wohn- und Lebensmodellen im Weg.

Dabei ist Deutschland längst gebaut: Mit rund 17 Millionen Ein- und Zweifamilienhäusern verfügen wir über einen enormen Wohnbestand – oft mit großzügigem Platzangebot, Garten und Garage. Dieser Bestand, der über Jahrzehnte hinweg zum Symbol des gesellschaftlichen Aufstiegs wurde, ist heute Problem und Lösung zugleich.

Zu groß zum Bleiben – zu teuer zum Gehen?

Viele dieser Einfamilienhäuser werden von der sogenannten Boomer-Generation bewohnt. Die Kinder sind ausgezogen, die Häuser zu groß, die Räume leer, der Garten pflegeintensiv, das Obergeschoss zunehmend beschwerlich erreichbar. Die Heizkosten steigen, das Gebäude ist nicht barrierefrei – und zur nächsten Arztpraxis geht’s nur mit dem Auto.

Ein Umzug? Für viele scheint er unmöglich: Die neuen Wohnungen sind, falls überhaupt vorhanden, kleiner, teurer, nicht in der vertrauten Nachbarschaft – und der organisatorische Aufwand erscheint übermächtig. Also bleibt man. Nicht aus Überzeugung, sondern mangels Alternativen.

Wohnflächen-Remanenz: Wenn Räume leer, aber nicht frei werden

Ein sperriger Begriff, aber ein reales Phänomen: Wohnflächen-Remanenz. Gemeint ist damit, dass ältere Menschen in zu großem Wohnraum verbleiben, der längst nicht mehr zu ihrer Lebenssituation passt. Nicht einfach aus Bequemlichkeit, sondern häufig, weil es an leistbaren und barrierefreien Alternativen in der Nähe fehlt. Auch die emotionale Bindung an das vertraute Zuhause spielt eine Rolle. Hinzu kommen fehlende Informationen über alternative Wohnmöglichkeiten sowie rechtliche Unsicherheiten, insbesondere in Bezug auf die Weitergabe oder die spätere Nutzung des bisherigen Eigenheims.

So entsteht "innerer Leerstand", also bewohnte, aber untergenutzte Flächen, die dem Wohnungsmarkt faktisch entzogen bleiben. 
Laut Statistischem Bundesamt stehen in Deutschland Menschen ab 65 Jahren  im Schnitt 68,5 m² Wohnfläche pro Person zur Verfügung bei gleichzeitig wachsendem Mangel an leistbarem Wohnraum, v.a. in den Ballungsräumen. Diese Flächen müssen trotz geringer Nutzung beheizt und instandgehalten werden – ein ökonomisches und ökologisches Problem.

Die Wohnraumkrise ist kein Mengenproblem

Die Herausforderung ist also weniger eine Frage der Quantität als vielmehr eine Frage der Verteilung, Nutzbarkeit und Erreichbarkeit. "Innerer Leerstand" trifft auf Wohnungsmangel, Überversorgung auf Unterversorgung. Eine paradoxe Situation, die andere Lösungen verlangt als einfach nur neu zu bauen.

Was wir brauchen, ist ein Perspektivwechsel: Gemeinschaftliches Wohnen statt Vereinsamung. Sanierung und Umbau statt Abriss. Aufteilung und Tausch statt Neubau.

Die Zukunft liegt im kreativen Weiterdenken des Bestehenden, nicht in der pauschalen Fortschreibung der Vergangenheit.

"Sanieren, teilen, aktivieren" statt "bauen, bauen, bauen" – auch für den Klimaschutz

Architektinnen und Architekten übernehmen eine Schlüsselrolle: als gestaltende, vermittelnde und ermöglichende Akteure des Wandels. Denn: Die nachhaltigste Wohnung ist die, die schon existiert und sich an aktuelle Anforderungen anpassen lässt. Dennoch liegt die Sanierungsquote in Deutschland bei nur 0,7% jährlich – viel zu wenig, um die Klimaziele im Gebäudesektor zu erreichen. Über 79% der Wohngebäude werden laut dena-Gebäudereport 2025 weiterhin mit Öl oder Gas beheizt.

Ein kreativer Umgang mit dem Bestand kann hier doppelt wirken: sozial und klimapolitisch. Wenn ältere Menschen passende Alternativen finden, werden ganze Häuser wieder aktiviert, saniert, aufgeteilt oder generationsübergreifend neu belebt.

Lösungen gibt es – wenn man sie möglich macht

Viele gute Beispiele zeigen bereits heute, wie es gehen kann:

  • In Weyarn (Oberbayern) entstand mit dem Quartier am Klosteranger ein Modellprojekt: Ältere Menschen erhielten die Möglichkeit, in barrierefreie Wohnungen im selben Ortsteil zu ziehen, ohne dabei ihre sozialen Bindungen zu verlieren. Dadurch wurden ihre früheren Häuser für junge Familien verfügbar. Möglich wurde das durch gezielte kommunale Planung, Beteiligung und Beratung.
  • Auch Kirchanschöring und Herbertshausen fördern gezielt den Wohnungstausch, die Umnutzung von Einfamilienhäusern und neue Wohnformen im Bestand.
  • In Bruckmühl zeigt die "Oase Thalheim", wie generationenübergreifendes, gemeinschaftliches Wohnen mit geteilten Ressourcen, Rückzugsmöglichkeiten und gegenseitiger Unterstützung gelingen kann.

Weitere Impulse für eine verbesserte Nutzung des Bestehenden:

  • Teilung und Umbau: Erdgeschosse können, wo möglich, barrierefrei umgebaut und bei Bedarf erweitert werden, Obergeschosse lassen sich gegebenenfalls abtrennen. So entsteht Wohnraum für Dritte und eine spürbare Entlastung im Alltag.
  • Ergänzung und Nachverdichtung: Früher hatte jeder Hof ein Austragshaus für die ältere Generation der Familie – ein kleines, privates Refugium im vertrauten Umfeld mit Familienanschluss. Barrierefreie Ergänzungsbauten in locker bebauten Einfamilienhaussiedlungen sind das moderne Pendant. Damit solche Nachverdichtungen möglich werden, braucht es baurechtliche Spielräume.
  • Wohnen für Hilfe: Das Prinzip Wohnraum gegen Unterstützung im Alltag schafft eine Win-win-Situation mit sozialem Mehrwert für beide Seiten.
  • Wohnprojekte und neue Wohnformen: Gemeinschaftliches Wohnen, Mehrgenerationenhäuser oder selbstorganisierte Projekte schaffen attraktiven Wohnraum mit sozialem Mehrwert. Sie fördern Nachbarschaft, gegenseitige Unterstützung und eine effizientere Nutzung von Fläche. So fällt der Umzug aus dem bisherigen Zuhause oft leichter und wird zur echten Option.
  • Quartiersangebote: Niedrigschwellige, für alle offene Treffpunkte sowie wohnortnahe Einrichtungen wie integrierte betreute Wohngemeinschaften oder Pflegestützpunkte ermöglichen einen langen Verbleib im gewohnten Umfeld und beugen Vereinsamung vor.
  • Umzugshilfe und Beratung: Viele wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Aktiv beworbene Informationsangebote zu Barrierefreiheit, energetischer Sanierung, Fördermitteln sowie zu Steuer- und Erbrecht sind ein wichtiger Hebel, um ältere Menschen zu erreichen.
  • Flächenmanagement aufbauen: Ein gezielter und aktiver Umgang mit bestehenden Flächenpotenzialen und vorhandenem „innerem Leerstand“ hilft, ungenutzten Wohnraum zu aktivieren, Potenziale sichtbar zu machen und vorhandene Ressourcen besser zu nutzen. Kommunen können so Entwicklungen aktiv steuern, Zusammenhänge erkennen und Wohnraum dort mobilisieren, wo er gebraucht wird.

Neubau zukunftsfähig gestalten

Wenn neu gebaut wird, sollte auch hier die Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Lebensphasen oder generationengerechte Wohnformen im Mittelpunkt stehen. Einfamilienhäuser mit barrierefreiem Bad und Zimmer im Erdgeschoss, trennbaren Etagen oder vorbereiteten Aufzugsschächten sind keine Luxusidee, sondern vorausschauendes Bauen. Mehrfamilienhäuser mit kleiner barrierefreier Wohnung im Erdgeschoss und größerer Wohnung über zwei Etagen mit Gartenzugang werden zu Mehrgenerationenhäusern.

Fazit: Einen alten Baum versetzt man nicht – aber er hört auch nie auf zu wachsen

Der demografische Wandel trifft auf einen angespannten Wohnungsmarkt und einen hohen Sanierungsstau. Doch gerade diese Herausforderungen bergen zusammen eine große Chance. Wer heute innovativ und vorausschauend plant – mit Mut, Kreativität und Augenmaß –, schafft nicht nur bessere Bedingungen für ältere Menschen, sondern auch neuen, bezahlbaren und nachhaltigen Wohnraum für die junge Generation.

Jetzt heißt es: Wohnen neu denken. Sanieren statt abreißen. Tauschen statt zementieren. Aktivieren statt ausbremsen.

Autorinnen: Kathrin Hess, Beratungsstelle Barrierefreiheit und Andrea Bitter, Beratungsstelle Energieeffizienz und Nachhaltigkeit

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